Nürnberger Ketzerprozesse

gegen Kindermordgegner

EINE KETTE VON RECHTSBEUGUNGEN

III.1.k. Beschluß

 

5St RR 350/00

Bayerisches Oberstes Landesgericht

 

BESCHLUSS

 

 

Der 5. Strafsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts hat unter Mitwirkung der Richter Kehrstephan, Kaliebe und Heiss

 

in dem Strafverfahren

gegen

Dr. Lerle  Johannes

wegen

Beleidigung u. a.

 

auf Antrag und nach Anhörung der Staatsanwaltschaft

 

Am 20. November 2000

 

b e s c h l o s s e n

 

I.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 22. Mai 2000

1. im Schuldspruch wie folgt geändert:

Der Angeklagte wird wegen Beleidigung verurteilt.

Angewandte Vorschriften: §§ 185, 194 StGB

 

2. im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen samt Kostenentscheidung aufgehoben.

II.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nü rnberg-Fürth zurückverwiesen.

 

G r ü n d e:

I.

Wegen Beleidigung in Tateinheit mit übler Nachrede verurteilt das Amtsgericht Fürth den Angeklagten am 3.2.2000 zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 20 DM. Seine Berufung verwarf das Landgericht Nürnberg-Fürth am 22.5.2000 als unbegründet.

Mit der hiergegen eingelegten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts.

II.

Zum Tatgeschehen und zu dessen Hintergrund hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte, der 1989 ein Theologiestudium mit der Promotion abschloß, ist engagierter Abtreibungsgegner. Er wendet sich mit Vehemenz gegen die geltenden, einen Schwangerschaftsabbruch zulassenden oder straffrei stellenden Gesetze und gegen deren Umsetzung in die Praxis. Auch die im Rahmen geltender Gesetze stattfindenden Schwangerschaftsabbrüche seien "verabscheuungswürdige Verbrechaen; ein millionenfacher Mord; schlimmer als das, was Hitler getan habe". Ein Richter, der einen Schwangerschaftsabbrüche vornehmenden Arzt vor der berechtigten Kritik des Angeklagten schütze, stelle die geltenden Rechtsvorschriften über das Naturrecht und Gottesrecht, betreibe menschenverachtenden Rechtspositivismus.

Mit der Verteilung von selbst verfaßten Flugblättern in Nürnberg Anfang September 1997 löste der Angeklagte ein erstes Strafverfahren gegen sich aus. Eine vom Amtsgericht Nürnberg am 11.3.1998 ausgesprochene Verurteilung zu 60 Tagessätzen zu je 20 DM Geldstrafe wegen Beleidigung des im Flugblatt namentlich angegriffenen Arztes bestätigten das Landgericht Nürnberg-Fürth am 24.11.1998 und der erkennende Senat mit Beschluß vom 22.6.1999 (5St RR 97/99). Die Strafe wurde durch Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe vom 21.2. bis 18.4.2000 vollstreckt.

Das vorliegende Strafverfahren löste der Angeklagte durch eine weitere Flugblattaktion aus. Von dem von ihm verfaßten Flugblatt warf er am 28.7.1998 eine nicht mehr feststellbare Anzahl in zahlreiche Briefkästen im Stadtgebiet Fürth ein. Weitere 1155 Exemplare beschlagnahmte die Polizei im Besitz des Angeklagten, als sie ihn am 31.7.1998 in Fürth vor Beginn einer Versammlung antraf, zu der der damalige Bundesminister der Finanzen Dr. Waigel als Redner eingeladen worden war

Das "Waigel für Tötungskapazitäten" titulierte Flugblatt enthält u. a. folgende Passagen:

  • "Indem auch Dr. Waigel andere beauftragt hat, Tötungskapazitäten bereitzustellen, wandelt er in den Fußstapfen des demokratisch gewählten Reichskanzlers Adolf Hitler, der ebenfalls andere beauftragte, Tötungskapazitäten bereitzustellen. Wie der nationalsozialistische Staat den "Achtungsanspruch" seiner Schergen schützte, so schützen auch heute Richter den Ruf von solchen Kriminellen, die die Rückendeckung z. B. Dr. Waigels genießen.”
  • ...
  • "Wegen angeblicher Beleidigung eines bundesweit bekannten Tö tungsspezialisten für ungeborene Kinder wurde ich (Johannes Lerle) durch Richter Ackermann vom Amtsgericht Nürnberg zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Ob diese Rechtsbeugung auch in der 2. Instanz Bestand hat, wird sich bei der öffentlichen Berufungsverhandlung des Strafprozesses zeigen, die am Dienstag, den 08.09.1999, 10.00 Uhr im Sitzungssaal 144/1 des Landgerichts Nü rnberg-Fürth im Justizgebäude in der Fürther Straße 110 in Nürnberg stattfindet."
  • Dr. Waigel und der Dienstvorgesetzte des Richters am Amtsgericht Ackermann stellten jeweils am 30.7. und am 3.8.1998 Strafanträge gegen den Angeklagten.
  • III.

    1. Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete (§ 341 Abs. 1, § 345 Abs. 2 StPO) Revision des Angeklagten hat teilweise Erfolg. Die vom Berufungsgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen eine (tateinheitliche) Verurteilung wegen übler Nachrede (§ 186 StGB) nicht. Die danach gebotene Schuldspruchänderung hat der Senat, da weitere klärende Feststellungen ausgeschlossen werden können, selbst vorgenommen (§ 354 Abs. 1 StPO).

    2. Soweit sich das Rechtsmittel gegen die Verurteilung wegen Beleidigung zum Nachteil von Dr. Waigel richtet, hat die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Zur Antragsbegründung der Staatsanwaltschaft bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht vom 17.10.2000 merkt der Senat ergänzend folgendes an: Eine Verfolgungsverjährung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BayPrG (GVBl 2000 S. 342) ist nicht eingetreten; sie wurde am 10.11.1998 mit dem Eingang der Anklageschrift und der Akten bei dem Amtsgericht unterbrochen (§ 78 c Abs. 1 Nr. 6 StGB) und ist seit 3.2.2000 gehemmt (§ 78 b Abs. 3 StGB). Das Landgericht hat sich ausführlich (BU S. 7/8) mit dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB und der Ausübung des Grundrechts der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG auseinandergesetzt und ist im Einklang mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfG NJW 1995, 3303 und NJW 1996, 1529 je m. w. N.) zu dem durch Wortlaut, Kontext und Begleitumstände begründeten Ergebnis gelangt, der Angeklagte habe die politische Tätigkeit Dr. Waigels (in Sachen Schwangerschaftsabbruch) mit dem staatlich organisierten Massenmord Hitlers gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung ist auch nach Meinung des Senats nicht hinnehmbar, weil sie einen Angriff auf die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Würde des Betroffenen und dessen Schmähung darstellt; der verbale Angriff des Angeklagten gegen Dr. Waigel stellt - auch unter Berücksichtigung des Kontextes und der für den unbefangenen Leser des Flugblatts erkennbaren Begleitumstände - die Diffamierung der Person in den Vordergrund; um größtmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit auf sein Flugblatt zu lenken, hat der Angeklagte ein prominentes Mitglied der damaligen Bundesregierung an den Pranger stellen und persönlich herabsetzen wollen (BGH NJW 2000, 1036 [1038] m. w. N.; BayObLG NJW 2000, 3079 [3080]).

    2. Die Verurteilung wegen tateinheitlich begangener übler Nachrede (§ 186 StGB) kann keinen Bestand haben, denn die Verwendung des Wortes "Rechtsbeugung" in dem Satz "ob diese Rechtsbeugung auch in der 2. Instanz Bestand hat ... “ in bezug auf die amtsgerichtliche Verurteilung vom 11.3.1998 stellt nicht eine (unwahre) Tatsachenbehauptung, sondern eine Meinungsäußerung dar, der Art. 5 Abs. 1 GG einen weitergehenden verfassungsrechtlichen Schutz einräumt (BVerfG NJW 1992, 1439 [1440] m. w. N.). Das Landgericht ist ohne weitere Begründung (BU S. 9) davon ausgegangen, daß der Angeklagte mit "Rechtsbeugung" eine Handlung meint, die den Tatbestand des in § 339 StGB typisierten Verbrechens erfüllt. Diese der Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegende Auslegung ist nicht haltbar. Unter mehreren objektiv möglichen Deutungen hat sich das Berufungsgericht für die zur Verurteilung führende entschieden, ohne die anderen unter Angabe überzeugender Gründe auszuschließen (BVerfG aa0). In unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen können manche Worte und Begriffe verschiedene Bedeutungen haben; ein Strafurteil, das sich allein für die ehrenrührige Deutung entscheidet und die nicht ehrenrührigen Deutungen übergeht, verstößt gegen Art. 5 Abs. 1 GG (BVerfG NJW 19951 3303 [3305]). Das ist hier der Fall. Der Angeklagte, der sich auf ein höherrangiges "Naturrecht" und "Gottesrecht" beruft, verwendet innerhalb seiner extremen Polemik ("Tötungskapazitäten", "Tötungsspezialisten", "Kriminelle") - das Wort "Rechtsbeugung" als weiteres Kampfwort in seinem Feldzug gegen das den Schwangerschaftsabbruch zulassende staatliche Recht und gegen die Amtsträger, die das von ihm abgelehnte staatliche Recht anwenden. Der sprachliche Kontext und die Verfahrenssituation, in der der das Wort "Rechtsbeugung" enthaltende Satz verfaßt wurde, lassen in diesem konkreten Fall auch die Deutung zu, daß der Angeklagte die gegen ihn ausgesprochene Verurteilung als schreiend ungerecht, als eklatantes Fehlurteil, als Mißachtung ("Beugung") von "Naturrecht" und "Gottesrecht" anprangern wollte, um Sympathisanten für seinen Feldzug gegen den Schwangerschaftsabbruch und die sich vor die "Tötungsspezialisten" schützend stellende Justiz zu gewinnen; Sympathisanten, die durch möglichst zahlreiches Erscheinen in der angekündigten Berufungsverhandlung ihm helfen sollten, seinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen. Da diese weder gegen § 186 noch gegen § 185 StGB verstoßende Deutung für die verfahrensgegenständliche Flugblattverteilung (Ende Juli 1998) nicht ausgeschlossen werden kann, muß der auf § 186 StGB gestützte Schuldspruch aufgehoben werden. Für künftige Flugblattaktionen gilt dies nicht, da das vorliegende Verfahren den Angeklagten belehrt hat, daß die deutsche Rechtssprache unter Rechtsbeugung eines der schwersten Verbrechen versteht, das ein Amtsträger begehen kann (§ 339 StGB).

    IV.

    1. Die Berichtigung des Schuldspruchs zwingt zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs, da das Landgericht - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - für die Strafzumessung vom Strafrahmen des § 186 StGB ausgegangen und eine äußerst massive Verunglimpfung von zwei Betroffenen strafschärfend berücksichtigt hat (BU S. 10).

    2. Die Sache ist im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsmittelverfahren - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO), da die Strafzumessung dem Tatrichter obliegt.

    3. Soweit die Revision des Angeklagten Erfolg hat, beruht die Entscheidung auf § 349 Abs. 4 StPO, im übrigen auf § 349 Abs. 2 StPO.

     

    gez. Kehrstephan  gez. Kaliebe  gez. Heiss